Politik muss demografischen Wandel gestalten

Der demografische Wandel kommt nicht überraschend. Seine unvermeidlichen Folgen können mit vielfältigen poltischen Maßnahmen für die Gesellschaft zukunftsfähig gestaltet werden. Bund, Länder und Kommunen haben in Zusammenwirken mit den Menschen viele Möglichkeiten Strategien für einen besseren Zusammenhalt der Gesellschaft zu verwirklichen.

2011 lebten 81,8 Mio. Menschen in Deutschland. Gegenüber 2010 bedeutet dies ein Anstieg der Bevölkerung um 92.000 Personen. Es war die erste Bevölkerungszunahme seit neun Jahren. In der Perspektive bis 2060 wird die Bevölkerung jedoch auf 65 bis 70 Mio. Menschen abnehmen. Das wären bis zu 17 Mio. Einwohner weniger innerhalb von 50 Jahren.

Deutschland altert: die Geburtenrate bleibt niedrig, die durchschnittliche Lebenserwartung steigt weiter an, die Anzahl der Rentner/innen im Verhältnis zu den Erwerbstätigen nimmt zu, die Anzahl der Kinder und Jugendlichen sinkt. Eine stärkere Zuwanderung kann helfen den Fachkräftemangel zu beheben.

Besonders gravierend kann sich die vorhersehbare Schrumpfung der erwerbsfähigen Bevölkerung auf die Wirtschaftskraft der Volkswirtschaft auswirken. „Die Unternehmen müssen sich bis 2030 darauf einstellen, mit 6,3 Mio. weniger Erwerbsfähigen im Alter von 20 bis 64 Jahren auszukommen, aber gleichzeitig so produktiv sein, dass die Gesellschaft einen Zuwachs von 5,5 Mio. über 64-Jährigen finanzieren kann.“

Diese wirtschaftspolitische Herausforderung muss gesamtgesellschaftlich angenommen werden. Vier Maßnahmen können dazu beitragen das Erwerbspersonenpotential zu stabilisieren:

  1. Ältere Arbeitnehmer/innen werden angesichts der im Durchschnitt höheren Lebenserwartung länger als bisher berufstätig bleiben. Die Erwerbsquote älterer Frauen und Männer ist bereits seit Abschaffung der Vorruhestandsregelungen und Einführung der Rente mit 67 spürbar angestiegen. Die gestiegene Anzahl von Teilzeit- und Minijobs ist für diese Tatsache kein Gegenargument, sondern Hinweis dass eine mögliche längere Erwerbstätigkeit bisher nicht genutzt wird aber möglich ist.
  2. Die Erwerbstätigkeit von Frauen kann weiter ausgedehnt werden. Hierzu ist der Ausbau von Kinderbetreuungseinrichtungen und Ganztagsschulangeboten eine wesentliche Voraussetzung. Die Erwerbsbeteiligung von Frauen ist im Vergleich zu 1996 von 55 auf 66 Prozent bereits gestiegen, von Ihnen arbeiten 30 Prozent in Teilzeit. Die Anzahl prekärer Arbeitsverhältnisse muss im Rahmen des demografischen Wandels zurückgedrängt werden. Frauen haben heute im Durchschnitt höhere Bildungsabschlüsse bzw. Berufsqualifikationen als in der Vergangenheit. Ihre Fähigkeiten dürfen für die Volkswirtschaft nicht verloren gehen. Unternehmen müssen mehr für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie investieren (Betriebskindergärten, flexible Arbeitszeiten etc.).
  3. Der Fachkräftemangel ist bereits in einigen Berufsfeldern akut. Mittels der Blue Card ist z.B. für Ingenieure und Pflegepersonal die Zuwanderung aus dem außereuropäischen Ausland erleichtert worden. Die Rahmenbedingungen sind jedoch immer noch zu restriktiv. Deutschland braucht in den nächsten Jahren einen jährlichen Wanderungsüberschuss von rund 200.000 Personen, um der demografisch bedingten Schrumpfung des Erwerbspersonenangebots angemessen begegnen zu können. Nur mit einer Willkommenskultur für Zuwanderer/innen ist dies erreichbar. Ein transparentes Punktesystem für nachgefragte Berufsqualifikationen sollte eingeführt werden, um im Vergleich zu anderen Ländern wie Australien, Kanada oder Österreich attraktive Bewerbungsbedingungen anbieten zu können.
  4. Die Arbeitsproduktivität und Innovationsfähigkeit der Gesellschaft kann im internationalen Vergleich nur gehoben werden, wenn Deutschland seine Bildungsinvestitionen steigert und sich weltoffen international überzeugend präsentiert.

Der demografische Wandel verursacht durch die Alterung der Gesellschaft erhebliche Risiken für die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme (Rente, Pflege, Krankenversicherung). So geht Eurostat in der Bevölkerungsvorausschätzung 2010 davon aus, dass sich der Altenquotient im Euro-Währungsgebiet von 2010 (30,1 %) bis 2060 (58,4%) nahezu verdoppeln wird.

Der Bericht zur Bevölkerungsalterung 2012 geht davon aus, dass die rein alterungsbedingten Staatsausgaben (d.h. die Ausgaben für Altersversorgung, Gesundheitswesen, Langzeitpflege und Bildung) im gesamten Euoraum von 2010 bis 2060 um 4,5 Prozentpunkt des Bruttoinlandprodukts (BIP) steigen werden.

Für Deutschland heißt dies angemessene Antworten für die verschiedenen Zweige der sozialen Sicherung zu finden. Das Anstreben von Bürgerversicherungen für die jeweiligen Zweige der sozialen Sicherung kann für die Beitragseinnahmenseite eine auf gesellschaftlicher Solidarität beruhende angemessene Finanzierungsstrategie sein. Für die Ausgabenseite ergibt sich durch die Zunahme prekärer Beschäftigungsverhältnisse, Langzeitarbeitslosigkeit, niedrige Löhne, Soloselbständigkeit ein zunehmendes Risiko für die Zunahme von  Armut im Alter. Frauen, ostdeutsche Männer (wegen unterbrochener Erwerbsbiografien) und Selbstständige sind die wesentlichen Gruppen, die von Altersarmut betroffen sein können.

Die bisher seitens der Bundesregierung entworfene Zuschussrente für langfristig Beschäftigte ist keine angemessene Antwort auf das zunehmende Armutsrisiko der verschiedenen Personengruppen von Erwerbstätigen. Minirenten müssen auf ein garantiertes Mindestniveau oberhalb des Grundsicherungsniveaus angehoben werden. Ein solidarischer Finanzierungsweg muss für diesen von Armut gefährdeten Personenkreis gefunden werden. Ansprüche aus Betriebsrenten oder privater Altersvorsorge müssen dabei berücksichtigt werden.

Die Bertelsmann Stiftung bietet für schrumpfende oder wachsende Kommunen mittels ihres Demografie-Monitor eine gute Datengrundlage für die politische Diskussion von Handlungsansätzen in Stadt und Land.

Der demografische Wandel ist eine gesellschaftspolitische Herausforderung für alle Altersgruppen. Die Heinrich-Böll-Stiftung will in Zusammenarbeit mit ihren Landesstiftungen für verschiedene Themen Diskussionsveranstaltungen für Lösungsstrategien anbieten.